Interview in Fotoforum mit Bernd Arnold über die Welt der Neuen Bilder

"Wahr ist, was gefällt"
Bernd Arnold über "Die Welt der Neuen Bilder"

Interview von Martin Breutmann mit Bernd Arnold
in Fotoforum 6/2023, S. 54-57 (8.9.2023)



Der Kölner Fotojournalist und -künstler Bernd Arnold analysiert in seinem neuen Buch „Die Welt der Neuen Bilder. Dokumentarische Fotografie und KI“ die Bedeutung künstlicher Intelligenz für die zukünftige Entwicklung der Fotografie und deren Wirkungen auf die Gesellschaft und Demokratie. Im fotoforum-Interview mit Martin Breutmann erläutert er den Kerngedanken seiner Arbeit.

fotoforum: Für Ihr Kunstprojekt „So habe ich es gesehen“ haben Sie beinahe banale Bilder aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben generiert, die jedoch genau wegen ihrer Unverfänglichkeit kaum in den Verdacht einer Manipulation geraten. Müssen wir uns vom bekannten Begriff der Realität verabschieden?

Bernd Arnold: Da gesellt sich gleich eine weitere Frage hinzu: Wessen Realität? Ich beziehe ich mich gerne auf eine Realität, die sich im Rahmen demokratischer Errungenschaften befindet. Das klingt trivial, aber es grenzt die Auswahl der Funktionen ein, die ein dokumentarisches Bild haben soll. So ist es für eine Demokratie fundamental zu unterscheiden, ob eine Fotografie auf Gewesenes verweist oder eine Imitation einer Fotografie ist. Aber ab wann wird eine Fotografie zu einer Imitation von Fotografie? Dieser Frage bin ich mit meiner Arbeit „So habe ich es gesehen“ in Bild und Wort nachgegangen. Dabei entstand für mich der Eindruck, dass es unerheblich ist, mit welchen handwerklichen Mitteln eine „Manipulation“ erzeugt wird, sondern entscheidend ist, in welcher Perfektion diese möglich ist, mit welcher Geschwindigkeit sie in die medialen Kanäle gelangt, wie lange sie dort verbleibt und wie perfekt sie authentische Fotografie imitiert. Die Perfektionierung dieser Möglichkeiten begann schon vor 30 Jahren mit der ersten Einführung digitaler Kameras auf der Kölner Photokina. Also, die Entwicklung ist schon eine ganze Weile im Gange. So werden wir uns erst von der Realität einer demokratischen Gesellschaft verabschieden müssen, wenn Fakten nicht mehr die Grundlage eines Diskurses sind. Das Dokument, bzw. die dokumentarische Fotografie und ihre Quelle, so subjektiv sie auch sein mag, scheint mir für die gesellschaftliche Zukunft wichtiger zu sein als vermutet.

fotoforum: Die Manipulation fotografischer Bilder dürfte etwa so alt sein wie die Fotografie selbst. Was macht den qualitativen Unterschied aus, seitdem künstliche Intelligenz im Spiel ist?

Bernd Arnold: Ich würde tatsächlich nicht von Manipulation sprechen, sondern heute eher von Gestaltung oder subjektiver Interpretation des Gesehenen durch Neuordnung bereits festgehaltener Lichtspuren. Ich sehe den Kern der Fotografie und damit auch den qualitativen Unterschied zur digitalen Fotografie im Bildträger. Unsere Wahrnehmung einer Authentizität von Fotografie wurde schon weit vor ihrer Erfindung angelegt und ist letztlich ein Höhepunkt bildgebender Werkzeuge im Zeitalter der Aufklärung. Das Versprechen einer Authentizität beruht auf übertragene Lichtspuren einer vergangenen Realität, die auf dem Bildträger nicht »verschoben« wurden. Denn die gestalterische Neuordnung durch verschieben oder löschen von Bildelementen auf einem chemisch-physikalischen Bildträger ist extrem arbeitsintensiv, aufwendig und teuer. Obwohl Stalins Retuschen industriell gefertigte Realitäts-Beugungen waren, so ließen diese sich schon seinerzeit leicht aufklären. Der qualitative Unterschied in der Perfektionierung begann aber erst mit der einsetzenden Digitalisierung der Fotografie. Man hat es nur nicht wahrgenommen, weil im fotojournalistischen Bereich »analog-tradiert« fotografiert wurde. Man hielt das Versprechen der »nicht-verschobenen« Lichtspuren meist ein. Doch dieses hat sich auf vielen unterschiedlichen Ebenen im letzten Jahrzehnt immer weiter aufgelöst. So erstaunt es nicht, dass sich beispielsweise KI-generierte Imitationen von Fotografie und Fotografie ästhetisch kaum unterscheiden. Heute können viele Betrachter auf den ersten Blick diese noch inhaltlich als irreal einstufen. Der wesentliche Unterschied ist: Das Abgebildete auf einer Fotografie ist in der Regel gewesen, wie auch immer interpretiert oder subjektiv gestaltet. Das KI-Bild als Imitation einer Fotografie bildet in allergrößter Perfektion NICHTS ab. Das auf dem Bild Sichtbare ist nie gewesen. Es hat nie existiert! Es ist tatsächlich keine Abbildung.

fotoforum: Sie verwenden für künstlich generierte Bilder den Begriff „Dichografie“ – was beschreibt er genau?

Bernd Arnold: Der Begriff „Dicho“ aus dem altgriechischen verweist auf „zweifach, doppelt“. Das passt zur binären Bildspeicherung und auf ein Parallel-Universum an Bildern, die Abbildungen von Realität imitieren. Dichografien sind Bilder, in denen mit Hilfe digitaler Techniken fotografische Elemente verschoben, ausgetauscht, hinzugefügt, neu zusammengestellt oder eben auch vollständig KI-generiert sind. Es sind also nicht nur KI-Bilder, die unter diesen Begriff fallen, sondern eben auch jene Bilder, die ich in „So habe ich es gesehen" produziert hatte. Wenn man unverschobene Lichtspuren auf einem mit eigenen Sinnesorganen wahrnehmbaren Bildträger als Ursprung und Kern der Fotografie annimmt, so kann eine Dichografie, die Fotografie imitiert, nichts mehr mit Fotografie zu tun haben. Diese begriffliche Trennung ist wesentlich, wenn die dokumentarische Fotografie als Genre in Zukunft überleben soll.

fotoforum: Wir sprechen im Zusammenhang von KI und Fotografie viel von den Menschen, die Bilder erzeugen. Aber was bedeutet KI für Bildbetrachter*innen? Müssten wir als Bildkonsumenten nicht ganz neue Kompetenzen in der Betrachtung, Einordnung, Interpretation von Bildern entwickeln?

Bernd Arnold: Die Kompetenzen bei der Betrachtung von Bildern waren auch vor der Einführung der KI nicht wirklich gut ausgebildet, sonst wäre schon vor Jahren aufgefallen, dass die Vielfalt journalistischer Fotografie erheblich abgenommen hat und eine Handvoll Nachrichtenagenturen eine ästhetische Monokultur politischer Ereignisse etabliert hat. Die Wahrnehmung von publizierten Bildern in Zeitungen, Büchern oder im Web wird sich verändern. Ich befürchte - frei nach dem Medientheoretiker Marshall McLuhan, für den das Medium die Botschaft war - dass die Auswirkungen der Technik das Schwergewicht in unserer Sinnesorganisation schon verändert haben und die Wahrnehmung von Realität, abgebildeter Realität und KI-generierter Realität schon verschoben ist. Das konnte jeder bei sich selbst beobachten, als das Augenklappen-Bild von Olaf Scholz erschien.

fotoforum: Haben wir noch eine Chance, die Fotografie als authentisches Medium zu bewahren?

Bernd Arnold: Ich bin sicher, wenn man Fotografie und Dichografie sprachlich klar voneinander trennt, wird es für die dokumentarische analog-tradierte Fotografie in demokratischen Strukturen eine Zukunft geben. Doch in den beruflichen Diskussionen fällt auf, dass viele Fotografen und Fotografinnen, das Ersetzen eines Himmels und vieles mehr irrigerweise noch als Fotografie ansehen. Diese fatale Einordnung würde letztlich das Ende der Fotografie als authentisches Medium festzurren. Die gegenwärtig erstellten Bilder werden in Zukunft dann nicht mehr authentisch nachvollziehbar sein, weil kaum noch jemand zwischen einer Fotografie und den Imitationen von Fotografie unterscheiden kann, die milliardenfach in den Medienkanälen unterwegs sein werden. In diesem Falle blieben dann immerhin noch die Vintage-Prints, Fotobücher und Zeitschriften als kostbare Artefakte einer authentisch abgebildeten Realität übrig. Und dazu gehören dann auch Stalins erkennbare Retuschen, die Collagen eines John Heartfield oder das immer noch eindrücklichste Politikerportrait eines Bundeskanzlers, dass der Kölner Fotograf Chargesheimer 1957 für eine Spiegelgeschichte fotografierte mit dem Titel: „Wahr ist, was gefällt“.

Bildunterschriften
S. 54-55: Dichografien – Imitation von Fotografie – werden nach etwa 200 Jahren Fotografiegeschichte unsere visuelle Wahrnehmung zunehmend neu prägen, prognostiziert der Fotograf, Künstler und Autor Bernd Arnold. Seine hier gezeigten farbigen Dichografien sind aus einer echten Veranstaltung als digitale Collage, aber ohne KI neu zusammenmontiert und werden dadurch Fiktion.
S. 56-57: Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestagswahlkampf 2025 im Niemandsland: Dichografie von Bernd Arnold, mithilfe künstlicher und menschlicher Intelligenz generiert.

Cover – Taschenbuch – Die Welt der Neuen Bilder: Dokumentarische Fotografie und KI

Die Welt der Neuen Bilder
Dokumentarische Fotografie und KI
Klappenbroschur, 14,5 cm x 19,8 cm, 144 Seiten, 25 sw Abbildungen, morisel Verlag, ISBN: 978-3-943915-60-0

Interview in Fotoforum mit Bernd Arnold über die Welt der Neuen Bilder